Warum Aktivismus uns vom Leben trennt – Teil 1
„Hätte, könnte, sollte, machen“ ist sogar bei der Evangelischen Kirche beliebt, vor ein paar Jahren ließ sie diesen Spruch auf Postkarten drucken und verteilte diese im Rahmen der Fastenaktion zu Ostern. Aus dem Berliner Pressebüro hieß es, dass dieses Motiv auch privat von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gerne verschickt wurde, was sehr verwundert, wenn man einmal tiefer über diesen Ratschlag nachdenkt, was in diesem zweiteiligen Essay versucht wird.
Der erste Teil befasst sich mit der Sinnlosigkeit des Ratschlags, der zweite Teil damit, wie man seiner eigenen Bestimmung auf die Spur kommt. Denn schließlich will kein Mensch irgendetwas „machen“, sondern das Richtige.
Bildmotiv: Adobe Stock / Prostock-studio
Es (Das narzisstische Leistungssubjekt) beutet sich freiwillig und leidenschaftlich aus, bis es zusammenbricht. Es optimiert sich zu Tode.
Sein Scheitern heißt Depression oder Burnout.
Byung-chul Han, Vom Verschwinden der Rituale, Ullstein 2019
Der Mensch muss tätig werden, ohne dass er weiß, wie sein Handeln ausgeht. Schließlich ist es unmöglich, sämtliche Zusammenhänge und Eventualitäten in einen Plan miteinzubeziehen. Der Versuch, alles zu durchdenken, bevor wir handeln, führt daher zu nichts. Der Spruch „hätte, könnte, sollte, machen“ ruft dazu auf, das Zögern und Grübeln zu beenden und sich dem Leben zu stellen.
Wer den Spruch gut findet, ist überzeugt, dass es in der Macht eines Menschen steht, jederzeit tätig zu werden. Faulheit und Mutlosigkeit, oder was einen sonst am „Machen“ hindert, können ihrer Meinung nach durch Willenskraft überwunden werden, man muss nur den inneren Schweinehund bezwingen. Und ist man einmal aktiv, ergibt sich alles Weitere.
Doch warum sind diejenigen, an die sich der Ratschlag richtet, nicht selber draufgekommen? Sollte der Impuls dieses Motivationsspruches ausreichen, dass Menschen, die sich bis eben selbst im Wege standen, aufstehen vom Grübelsofa und ins Leben stürzen? Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass der Spruch – wie jeder Ratschlag – ein Paradox ist. Die, die den Ratschlag befolgen können, brauchen ihn nicht und die, die ihn brauchen, können das Empfohlene nicht tun, denn sonst hätten sie ja das Problem nicht: Wer zwanghaft grübelt, wird immer weitergrübeln, und wenn er nicht über echte oder vermeintliche Hindernisse grübelt, dann darüber, warum ausgerechnet er oder sie immer grübeln muss, während andere einfach aktiv werden.
Nichts ist schlimmer, als seine Zeit zu verschwenden
Dass eine Verhinderung nicht einfach aufgelöst werden kann, wird jeder bezeugen, dem es über Jahre einfach nicht gelingt, den ihn quälenden Zustand zu beenden. Als ich mit dreiundzwanzig Jahren in einer Krise war, bekam ich einen Therapieplatz in einer der ersten Psychosomatik-Stationen Deutschlands in einem Berliner Krankenhaus. Achtzehn Männer und Frauen jeden Alters waren dort für mehrere Monate stationär aufgenommen worden, natürlich taten sich die Jüngeren mit den Jüngeren und die Älteren mit den Älteren zusammen. Dadurch stellten wir fest, dass der Schwerpunkt der Patienten entweder bei Anfang Zwanzig oder Mitte Fünfzig lag. Die über Fünfzigjährigen steckten in einer Krise, weil alles, was sie bisher getan hatten, sie nicht glücklich gemacht hatte. Bisher hatten sie in der Hoffnung gelebt, dass sich Glück und Zufriedenheit irgendwann in der Zukunft einstellen würden. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben begann zu schwinden, viele Träume hatten sich einfach in Luft aufgelöst. Und das konnten sie nicht akzeptieren.
Wir Jüngeren dagegen, so empfanden wir es, waren den Alten voraus; wir spürten schon jetzt, worauf es hinauslaufen würde, wenn man einmal die falsche Wahl getroffen und es sich im falschen Leben bequem gemacht hatte. Jeder von uns hatte auch bereits versucht, durch mehrere Ausbildungs- oder Studienwechsel das sich abzeichnende Drama zu verhindern, doch das Gefühl auf dem falschen Weg zu sein, war geblieben.
Es war wie verhext, aus der Ferne wirkte alles so vielversprechend: Tierpflegerin war ein Traumjob, das zeigten zahlreiche Dokumentationen im Fernsehen. Und warum lernte man nicht Italienisch und führte Reisegruppen durch Florenz, anstatt in einem hässlichen Labor in der Universität nervtötende Versuche durchzuführen. Da draußen in der Welt gab es so viel zu entdecken und zu erleben, warum saß man im WG-Zimmer über seinen Büchern und quälte sich mit Jahreszahlen und Formeln? Das Problem war nur, dass sich die Dinge anders darstellten, sobald man sie in Angriff nahm. Kaum wandten wir uns einer Sache zu, zerrann uns der Sinn unter den Händen. Und alles war so wie vorher.
Hinzukam, dass wir nach jedem Neuanfang noch ein weiteres Jahr älter waren als unsere Mitauszubildenden oder Kommilitonen; während wir uns im ersten Semester schon wieder fehl am Platz fühlten, machten sie bereits ihr Vordiplom oder ein Praktikum in einem Unternehmen.
Als eine übergewichtige und verwahrloste Mittzwanzigerin, die man als Kind mit ihrem jüngeren Bruder aus einer verlassenen und vermüllten Wohnung gezogen und zu einer Pflegefamilie gegeben hatte, in einer Gruppensitzung klagte, dass sie nicht wisse, was sie tun soll, riet eine junge Ärztin „einfach mal anzufangen“. Der Spaß käme dann, so ihre These, von ganz allein. Sie selbst habe zum Beispiel Medizin studiert, weil sie einfach Lust dazu hatte. Jetzt, wo sie das Studium erfolgreich beendet habe, könne sie jederzeit das Krankenhaus wechseln, ins Ausland gehen, irgendwann junge Menschen ausbilden oder Medizinjournalistin werden. Nichts sei umsonst, keine Fähigkeit, die man sich aneignet, sei verloren. Die Mitpatientin versprach, es zu versuchen: Also wieder von vorn beginnen, nur dieses Mal durchhalten, alles klar.
Serie GegenHaltung
Die richtige Haltung zu haben, ist wichtig für die eigene Identität. Die Welt ein Stückchen besser zu machen, verleiht Lebenssinn. Ein Mensch mit Haltung findet also, dass die Welt und alle Menschen darin dringend der Verbesserung bedürfen. Man nennt es auch Normierung. Zeit, dagegenzuhalten.
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Wenn Hoffnung schädlich wird
In dieser Station waren Menschen zusammengekommen, die sich zum ersten Mal eingestanden hatten, dass ihre Hoffnung, da draußen zu finden, was sie suchten, falsch war. Und dass sie mit jedem Neuanfang nichts weiter erreichten, als eine weitere Möglichkeit für sich auszuschließen. Daher auch die Abneigung der meisten Patienten gegen jede Form von Motivation; wir hatten es satt, uns zu zwingen, etwas zu tun, woran wir nicht glaubten, in der Hoffnung, das quälende Gefühl der Sinnlosigkeit würde von allein verschwinden. Die Patienten, die sich hoffnungsvoll gaben und jeden therapeutischen Wink und jede Hilfestellung gierig annahmen, bemitleideten wir, denn wir wussten, bald würde es ihnen wieder schlecht gehen, wenn ihnen nämlich klarwurde, dass kein noch so guter Wille etwas ausrichten würde gegen den Fluch, der auf uns lastete.
Offensichtlich ist es mit dem Sinn wie mit der Liebe: Man muss ihn fühlen. Und wie die Liebe scheint auch der Sinn nicht einfach zu erscheinen, wenn man ihn ruft. So wie man sich nicht einfach in jemanden verlieben kann, der oder die eine gute Partie ist, ist es zwecklos, sich an denen zu orientieren, die genau die Tätigkeit gefunden haben, die sie glücklich macht.
Waren also ausgerechnet alle Patienten dieser Station in Berlin derart außergewöhnliche Persönlichkeiten, dass normale Berufe wie Ärztin, Gärtner, Erzieher, Grafikerin, Programmierer oder Lehrer sie nicht erfüllen konnten? War jeder von uns so einmalig, dass nur eine einzige, ganz spezielle Sache uns erlauben würde, uns dieser Welt mitzuteilen? Wenn man sich unsere Gruppe ansah, musste man daran zweifeln. Es war wohl eher so, dass wir durch den dringenden Wunsch, endlich etwas zu finden, das uns mit Begeisterung erfüllte, genau das verhinderten, wonach wir uns sehnten. Wie in der Artussage zogen und zerrten wir an dem Schwert Excalibur, das eingefroren in einem Felsen steckte und mussten feststellen, dass es uns mit noch so viel Anstrengung nicht gelingen würde, das Schwert zu befreien. Wir ahnten natürlich, dass es für die Person, für die dieses Schwert bestimmt war, ein Leichtes wäre und dass diese Person auch nicht darüber nachdenken müsste, wie sie das Schwert in die Hand nehmen sollte, denn wie sie es tun würde, würde es richtig sein.
Es war also geradezu abstrus, dass jedes Mal, wenn wir soweit waren, die Tatsache anzuerkennen, dass dieses Schwert nicht für uns bestimmt war, wir von unserer Umgebung aufgefordert wurden, nicht mit unseren Anstrengungen nachzulassen. Die Menschen um uns herum wollten uns partout nicht erlauben, aufzugeben.
„Wenn ich mich aufraffe, dann nur, um meiner Umwelt zu beweisen, dass es nichts bringt. Damit mir keiner den Vorwurf machen kann, ich hätte es nicht versucht.“, erklärte mir Katja in einer der durchwachten Kliniknächte. Wir hatten uns angefreundet und trafen uns nachts im Aufenthaltsraum, um heimlich ins Krankenhaus geschmuggelten Rosé zu trinken und Schokolade zu essen. Warum gerade wir zum Scheitern verurteilt waren, wussten wir nicht. Aber es tat gut, das einmal auszusprechen. Und niemandem mehr Zuversicht vorspielen zu müssen, nicht einmal uns selbst.
„Vielleicht“, so Katja, „sollten wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir zu den Menschen gehören, denen gar nichts Spaß macht.“
„Wenn wir sicher wären, dass uns gar nichts Spaß macht“, erwiderte ich, „hätten wir kein Problem. Dann könnten wir nämlich aus den vielen Dingen, die uns keinen Spaß machen, einfach die Tätigkeit wählen, für die es am meisten Geld gibt und uns an den Annehmlichkeiten eines regelmäßigen Einkommens erfreuen.“
Genau aber das taten wir nicht, stattdessen hielten wir uns bereit für das, was noch kommen sollte. Es war ein Geheimnis, das unsere Existenz in einen süßbitteren Zauber hüllte. Wir quälten uns damit, es zu lösen, jede wache Minute dachten wir darüber nach, wie sich unsere Lähmung zerschlagen ließe. Bevor wir das Rätsel, das hinter unserer Unlust und Mutlosigkeit stand, nicht gelöst hatten, konnten wir nicht „einfach machen“.
Jede Sehnsucht verlangt das Unmögliche
„Hätte, könnte, sollte, machen“ fordert dazu auf, das rätselhafte Gefühl zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, zu ignorieren. Also aktiv zu werden, ohne dass „das Leben ruft“ in der Hoffnung, dass sich dann das Gefühl, lebendig zu sein, einstellt. Verrückt ist nur: Jemand der sich nicht verhindert fühlt, käme überhaupt nicht auf die Idee, dass es dieser Aufforderung überhaupt bedarf.
In seinem Song „Waiting for the miracle“ beschreibt Leonard Cohen einen Mann, der ganz gleich, was er unternimmt, keinen Zugang zum Leben findet. Wo er ist, mit wem er ist und was er auch tut, das Entscheidende fehlt: „They say it‘s Mozart but it sounds like bubble gum“, lautet eine Zeile dieses Songs; die einzige Freude des Protagonisten scheint sein Selbstmitleid zu sein. Die Welt kommt ihm vor, als habe sie keine höhere Bedeutung. Gleichzeitig weiß er, dass es nicht so sein kann, denn ansonsten würde er sich doch nicht nach dem Höheren sehnen? Es ist, als wäre er betrogen worden.
Für Menschen wie diesen Mann sind Freude und Schönheit also immer nur in der Abwesenheit möglich. Nur in der Sehnsucht erkennen sie, was ihnen Freude machen würde. Das geplante Abendessen mit Freunden ist noch voller Leichtigkeit und die erträumte Reise ist erholsam und voller wunderbarer Erlebnisse. Doch kaum tut man, nach was man sich sehnt und setzt sich zum Beispiel mit einem Freund ins Restaurant, erscheint der gemütliche Abend allein mit Büchern, Kerzen und Wein als das Einzige, was einen an diesem Abend glücklich gemacht hätte. Wäre man aber zu Hause geblieben, hätte man eben genau dazu keinen Zugang gehabt und sich schrecklich einsam gefühlt.
Die Wirklichkeit selbst scheint sich einem zu verweigern, und zwar umso mehr, je mehr man sie zwingen will. In klaren Momenten begreift man plötzlich, dass eine Unternehmung (um welche auch immer) nur dann belebend wirkt, wenn die Möglichkeit besteht, DASS sie belebend wirken kann. ‚Handeln‘ und ‚Fühlen‘ müssen zusammenkommen, um diesen magischen Moment zu erzeugen, in dem das Schwert aus dem Felsen gezogen werden kann – und zwar mit derselben Handbewegung, mit der man es zuvor schon Hunderte Male erfolglos versucht hat. Wer sich jedoch den Spruch „hätte, könnte, sollte, machen“ an die Pinnwand heftet, scheint nicht auf diesen magischen Moment warten zu können.
Teil 2 erscheint hier in einer Woche.








