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GegenHaltung

Warum Aktivismus uns vom Leben trennt – Teil 2

„Hätte, könnte, sollte, machen“ ist sogar bei der Evangelischen Kirche beliebt, vor ein paar Jahren ließ sie diesen Spruch auf Postkarten drucken und verteilte diese im Rahmen der Fastenaktion zu Ostern. Aus dem Berliner Pressebüro hieß es, dass dieses Motiv auch privat von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gerne verschickt wurde, was sehr verwundert, wenn man einmal tiefer über diesen Ratschlag nachdenkt, was in diesem zweiteiligen Essay versucht wird.

In diesem zweiten Teil geht es darum, wie man seiner eigenen Bestimmung auf die Spur kommt. Denn keiner will irgendetwas „machen“, sondern das Richtige.

Bildmotiv: Adobe Stock / Art_Photo

Wer glaubt, er sei falsch,
kann nichts richtig machen.

Motivation ohne Herz und Verstand?

Niemand wird bestreiten, dass eine Person, die ständig grübelt oder klagt, vom Leben abgeschnitten ist, während eine Person, die arbeitet, kocht, den Hund ausführt, Partys feiert und mit Freunden auf Reisen geht, mitten im Leben steht. Die Empfehlung hätte, könnte, sollte, machen“ soll erste Person dazu bringen, so zu sein wie die zweite. Im Grunde wissen die, die diesen Ratschlag geben, dass dies unmöglich ist, da erster Person etwas Entscheidendes fehlt, um den Rat in die Tat umzusetzen. hätte, könnte, sollte, machen“ ist also eine perfide Quälerei.

„Auch ich habe irgendwann einmal etwas verloren, was mir fehlt und was ich wiederfinden muss“, heißt es in der Ballade „Erinnerung“ von Hannes Wader. Er braucht nicht auszusprechen, was er verloren hat, damals als Kind im Zweiten Weltkrieg, als sein Vater Soldat in Norwegen war. Die Sehnsucht nach dem Vater war unerträglich groß, einmal stahl sich der kleine Hannes mitten in einer Winternacht aus dem Bett, um den Vater zu suchen, was er fast mit dem Leben bezahlte. Als dann der Onkel und später sogar der Vater aus dem Krieg zurückkamen, musste Hannes Wader feststellen, dass diese Männer vollkommen zerstört waren. Liebe und Vertrauen waren nun in dieser Familie unmöglich geworden. Sie hatten überlebt, aber wussten nicht mehr, wozu.

Ein metaphysisches Paradox

Die Liebe ist das Wunder, das fehlt, und das ist wenig überraschend. Warum ist überhaupt mangelnde Liebe für ein Kind so ein unaushaltbarer Schmerz? Ungeliebt zu sein heißt, dass es für niemanden eine besondere Bedeutung hat, dass es nicht willkommen ist auf dieser Welt. Es ist zu laut, zu schwierig, alles an ihm ist falsch, egal was es tut. Kurz: Lieblosigkeit gegenüber einem Kind ist die Verneinung seiner Existenz, sie verneint den Sinn des Lebens. Und genau aus diesem Grund ist Lieblosigkeit ein Verbrechen, an dem die Kinderseele zerbricht.

Sobald das ungeliebte Kind erwachsen ist, wird ihm gesagt, dass wer geliebt werden wolle, erst einmal lernen müsse, sich selbst zu lieben. Mit diesem Argument wird es vollends entmutigt; das ist ja gerade sein Problem, dass ihm die Selbstliebe nicht gelingt. Der ungeliebte Mensch ist mit einem metaphysischen Paradox konfrontiert; er will, wie jeder andere Mensch, so geliebt werden wie er ist. Doch der Ungeliebte muss im Gegensatz zu anderen Menschen dafür erst eine Bedingung erfüllen, nämlich sich selbst lieben. Das aber ist ein Widerspruch, denn das Wesen der Liebe ist doch, dass sie keine Bedingungen stellt.

Das Märchen vom Geisterschiff von Wilhelm Hauff* beschreibt genau diesen Zusammenhang von Anstrengung und Lebensverhinderung: Die Anstrengung scheint für den Ausgestoßenen nötig zu sein, um aus seiner Lähmung auszubrechen, aber in Wirklichkeit erzeugt die Anstrengung überhaupt sein Leid. Das Geisterschiff ist das perfekte Sinnbild einer Erfahrung, die nicht losgelassen werden kann.

Das Geisterschiff oder der Kreislauf des Leidens

In einer stürmischen Nacht während einer Schiffsüberfahrt erleben der Handelsreisende Achmet und sein Diener Ibrahim, wie ein geisterhaft wirkendes Segelschiff entgegen der Windrichtung ihren Weg kreuzt, woraufhin die Mannschaft in Verzweiflung gerät. Und tatsächlich, wenig später erleiden sie Schiffbruch. Am nächsten Morgen hat sich das Meer beruhigt und Achmet und Ibrahim, die einzigen Überlebenden der Katastrophe, halten sich an den Schiffsresten über Wasser. Irgendwann sehen sie ein Schiff am Horizont, sie winken und schreien, aber niemand scheint sie zu hören. Als sie es endlich erreicht haben und an Deck klettern, sehen sie auch warum: Auf dem Schiff scheint ein grausamer Kampf stattgefunden zu haben, überall Tote in ihrem Blut, Messer und Säbel liegen auf den Planken oder stecken in den Körpern der Seeleute. Das Grausigste aber ist ein Toter, der mit einem Nagel durch die Stirn an einem Schiffsmast festgenagelt worden ist. Doch es hilft nichts, die Schiffbrüchigen müssen das Totenschiff benutzen, um an Land zu segeln. Doch als Achmet und Ibrahim das Deck von den Toten räumen wollten, stellen sie fest, dass sich die Körper nicht bewegen lassen. Alles auf diesem Schiff ist wie erstarrt, auch die Segel lassen sich nicht hissen und das Steuerrad nicht drehen.

Erschöpft legen sie sich unter Deck schlafen und werden in der Nacht von Lärm und Geschrei geweckt. In ihrer ersten Nacht auf dem Geisterschiff können sich Achmet und Ibrahim nicht rühren. Am nächsten Abend gelingt es Ibrahim mit Koranversen, die er auf Zettel schreibt und um sie herum verteilt, den Bann zu brechen, so können er und sein Herr unerkannt das grausige Schauspiel miterleben, das sich hier Nacht für Nacht zu wiederholen scheint. Wie unter Zwang beginnt die Mannschaft zu saufen und zu streiten, eine Meuterei entsteht und am Ende liegen alle tot und zwar an genau denselben Stellen wie am Tag zuvor.

Da die Koranverse offensichtlich helfen, umwickeln Achmet und sein Diener am nächsten Tag die Segel und Masten mit religiösen Spruchbändern und können so das verfluchte Schiff an die indische Küste steuern, wo sie den Hafen einer Stadt vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Ein weiser Derwisch, den sie dort befragen, empfiehlt, die Schiffplanken, auf denen die Toten „kleben“, herauszusägen und an Land zu tragen und mit Erde in Kontakt zu bringen. Seine Empfehlung erweist sich als richtig; kaum berühren die Toten die Erde, erwachen sie – und zerfallen kurz danach zu Staub.

Nur der Kapitän kann nicht an Land gebracht werden, also nehmen Achmet und Ibrahim Erde mit an Deck und halten sie dem toten Kapitän unter die Füße. Dieser erwacht und erzählt seine Geschichte. Er berichtet von einer schrecklichen Zeit, in der er und seine Mannschaft nicht leben und nicht sterben konnten. Sie waren verflucht worden von einem Derwisch, den sie als Passagier an Bord hatten und den sie ermordeten, weil er ihnen ihr falsches Leben voller Grausamkeit und Seeräuberei vorgehalten hatte. Bevor er starb, prophezeit er ihnen, dass sie erst erlöst würden, wenn ihre Füße wieder echten Boden berühren würden. Danach hatten sie alles versucht, um an Land zu kommen und als sie das nicht geschafft hatten, steuerten sie viele Male das Schiff bei voller Fahrt auf die Klippen, aber auch das misslang.

Im Märchen vom Geisterschiff sind es Fremde, die die vom Leben Ausgeschlossenen erlösen; die verfluchten Seeleute können nicht selbst aus dem Kreislauf der Negativität aussteigen, der immer neues Leid hervorbringt. Achmet und Ibrahim haben der Mannschaft des Geisterschiffs wieder den Kontakt mit dem Leben (=Erde) ermöglicht, sie haben ihnen zugehört und ihre Erlebnisse anerkannt. Lange haben der Kapitän und seine Mannschaft auf dieses Geschenk warten müssen, sie konnten es als Ausgestoßene nicht selbst erzeugen.

Serie GegenHaltung

Die richtige Haltung zu haben, ist wichtig für die eigene Identität. Die Welt ein Stückchen besser zu machen, verleiht Lebenssinn. Ein Mensch mit Haltung findet also, dass die Welt und alle Menschen darin dringend der Verbesserung bedürfen. Man nennt es auch Normierung. Zeit, dagegenzuhalten.

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Wer, wenn nicht ich?

hätte, könnte, sollte, machen“ ist die Aufforderung, tätig zu werden und dabei den Schmerz zu ignorieren, der aus dem Gefühl entsteht, nicht willkommen zu sein. Doch ein Ungeliebter erkennt so deutlich wie kein anderer, dass es im Leben um nichts anderes geht. Er oder sie weiß: Es ist sinnlos, ohne Liebe weiterzumachen. Doch wer soll mich lieben, wenn ich es nicht kann. Es gibt nur einen Ausweg aus dem Dilemma eines Ungeliebten. In dem Moment, in dem ein Mensch seine Verzweiflung über die fehlende Liebe bejaht, erkennt er ihren Sinn an – und holt sie damit zurück ins Leben.

Dazu müsste man aber wissen, dass man mehr ist als ein ungeliebter Mensch. (Denn der Bejahende kann nicht der Bejahte sein.) Männer und Frauen, die mit vierzig, fünfzig oder sechzig Jahren und älter immer noch darüber verzweifelt sind, dass ihre Eltern sie nicht geliebt haben, erkennen die offensichtliche Tatsache, dass ihr Wesen davon unberührt ist, ob ihre Eltern sie geliebt haben oder nicht, nicht. Und lernt man zufällig die Eltern der Unglücklichen kennen (sollten sie noch leben), wird einem sofort klar, dass sie zu dem, was sich ihre Kinder von ihnen gewünscht haben, nicht in der Lage sind. Anstatt die Tatsache zu akzeptieren, dass die Eltern lieblos waren, halten einige Erwachsene lieber das Bild aufrecht, dass die Eltern die Liebe hätten geben können, vielleicht sogar noch geben werden, wenn sie, deren Kinder, einmal in ihrem Leben etwas richtig machen. Dadurch bleibt die Möglichkeit im Raum, die Liebe eines anderen Menschen durch „richtiges“ Verhalten doch noch zu gewinnen. Diese Möglichkeit wird zur einzigen Hoffnung und gleichzeitig ist sie ein Fluch. Und so wartet der Ungeliebte, wie Leonard Cohen es im Song „Waiting for the miracle“ beschreibt, auf ein Wunder.

Ein Wunsch wird zum Gefängnis

Mit dem Spruch „hätte, könnte, sollte, machen“ wird man niemanden dazu bringen, seine Verhinderung zu überwinden. Denn der Ungeliebte kann seine größte Angst – nämlich dass er nicht geliebt wird, egal, was er „macht“ – nur bewältigen, indem er nicht anfängt! So wie das ungeliebte Kind sich selbst die Schuld gibt, um das Gefühl von Kontrolle zu haben, so versucht der Handlungsunfähige seinen Glauben aufrecht zu erhalten, dass alles gut wird, sobald es ihm möglich ist, aufzustehen und zu „machen“. Um diese Hoffnung nicht zu zerstören, hindert er sich daran, aktiv zu werden. Am besten haben das die Anonymen Alkoholiker erkannt und daher folgende Ausstiegsmöglichkeit entwickelt: Wer vor seiner Lebensverhinderung kapituliert und zugibt, machtlos zu sein – und zwar am besten vor Zeugen –, kann ihrem Fluch entkommen. Das funktioniert nicht nur bei Alkoholismus.

Herumhetzen, unter Druck sein, schuften, warten.

Der Zwang zur Sinn- und Produktproduktion in unserer Gesellschaft hat aus dem „Machen“ einen Selbstzweck gemacht. Aber, um es mit einem abgewandelten Zitat von Jean-Jacques Rousseau zu sagen, frei ist nicht, wer tun kann, was er will, sondern tun darf, was er muss.

Um wirklich zu handeln, braucht es Ruhe, Zeit und Vertrauen. In vielen Kulturen gibt es dazu Übergangsriten, in denen Heranwachsende in eine Art Quarantäne geschickt werden, um zu hören, was die innere Stimme ihnen sagt. Heute geht man eher nach der Schule auf Weltreise. Danach nimmt man sich aber in der Regel selten Zeit, sich auf die Spur zu kommen. Mein Cousin, der nach einem abgebrochenen Studium am Strand von Tel Aviv Strandkörbe vermietet hat, hat ein ganzes Jahr gebraucht zum Nachzudenken. Meine Tante kam regelmäßig bei ihm vorbei, um ihm Gesellschaft zu leisten. In dieser Zeit haben sie über alles Mögliche gesprochen, aber nicht einmal hat sie ihn gefragt, was er jetzt machen wolle.

Um zu handeln (d.h. nicht nur machen), muss man also vorher aufgeben. Den Gedanken loslassen, sich Liebe und Anerkennung erarbeiten zu können. Aber auch die Vorstellung, man wäre in der Lage, ohne sie auszukommen. Das Verrückte ist, wer sich eingesteht, dass er sich selber nicht lieben kann, beginnt sich zu lieben. Ein Ungeliebter darf sein, was er ist und er darf hoffen. So wie Hannes Wader am Ende seiner Ballade: „Doch ein Funke von Vertrauen ist noch da und irgendwann / will ich glauben, kommt ein Wind und bläst das Feuer wieder an.“

Und wenn dies endlich passiert, brennt das Feuer von ganz allein.

Songs und Märchen

Leonard Cohen, Waiting for the miracle”

Wilhelm Hauff, Das Geisterschiff“, 1826

Hannes Wader, „Erinnerung“

Autor

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stammt aus einer deutsch-israelisch-iranischen Familie. Die Autorin lebt in Berlin und arbeitet unter anderem als PR- und Werbetexterin. Ihre Bestseller „Ich bleib so Scheiße wie ich bin“ und „Nett ist die kleine Schwester von Scheiße“ standen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Mit ihren scharfen Beobachtungen, ihrer Affinität zur Literatur, trifft sie ins Mark.

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