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Argentinien

Musikalisches Überleben in Argentinien Audio

„El Cachivache Quinteto“ aus Argentienien ist eine der beliebtesten Tangogruppen derzeit. Genannt werden sie die Tango-Rocker. Camilla Hildebrandt hat die vier Musiker auf ihrer Europa-Tournee getroffen, über ihre Musik, das Überleben als Künstler in Argentinien und Präsident Javier Mileis Kettensägen-Politik gesprochen.

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El Cachivache Quinteto auf Deutschlandtour

Sie interpretieren klassische Tangos aus den 20er, 30er Jahren, komponieren selbst Stücke, mitunter mit elektronischen Beats und sind dennoch „roqueros“, Rocker. Gitarrist Vito erklärt:

„Warum? Aus verschieden Gründen. Zunächst wegen unserer Wurzeln als Musiker, bzw. meiner und auch die von Pacha, dem Bassisten. Ich bin von Haus aus Rock-Gitarrist. Und natürlich auch wegen der E-Gitarre, die im Gründe störend ist unter so vielen akustischen und zerbrechlichen Instrumenten.“

Aber genau das Gegenteil ist der Fall in den Stücken von Cachivache, was auf Deutsch „Kram“ heißt. Die E-Gitarre wirkt vielmehr wie der treibende, mitunter fast unangenehm bohrende Motor. Wie zum Beispiel in dem Stück „Tiempo en el aire“ – Zeit in der Luft, von ihrer CD „Anticuerpos“ von 2020. Cachivache, das sind Gründer und Gitarrist Vito Venturino, Pacha Mendes am Kontrabass, der Bandoneonist Adriano De Vita, und das jüngste Bandmitglied ist Andres Ferrari am Piano, er ist 2022 dazugekommen. Entstanden ist das damals noch „Quintett“ im Jahr 2008. „Damals versuchten wir unsere Rockwurzeln zu verstecken, um in der Welt des Tango aufgenommen zu werden“, erinnert sich Vito. Aber heute, nach 17 Jahren, sind die Musiker völlig frei in ihrer Ausdrucksweise. Was sie aber zu Rockern mache, so Vito, das sei die Art und Weise, wie die Stücke entstehen.

„Für eins der beiden Neuen – wie zum Beispiel Gypsy Vals – habe ich allen ein Blatt Papier mitgebracht und gesagt: das sind die Akkorde, und das ist die Melodie. Es geht um Vertrauen. Anstatt dass ich als Komponist genau aufschreibe, was der Pianist zu machen hat, oder der Kontrabassist, ziehe ich es vor, ihnen ein weißes Blatt zu geben und dann die nächsten Monate der Zusammenarbeit abzuwarten und zu erleben, was entsteht.“

Wie ein Rocker zum Tango kommt? Durch Piazzolla, sagt Vito. Schon in den 50ern erschuf der Argentinier Astor Piazzolla den „Nuevo Tango“. 1960 gründete er ein Quintett aus Violine, Gitarre, Klavier, Bass und Bandoneon, damals eine Sensation, ein Skandal.

„Piazzolla hat viele in unserem Alter, die Rocker waren, zum Tango gebracht. Er war das Tor zum Tango. In seiner Performance, bei seinen Auftritten, war er ein totaler Rockstar. Er sah zwar eher aus wie ein Großvater, aber er schwitzte und schrie, spielte höllisch schnell und unglaublich gut.“

Er erinnere sich noch, als er das Stück in den 90er Jahren zum ersten Mal hörte, erzählt Vito:

„Ich habe mich gefragt: Was ist das? Weil es super modern ist, mit Schlagzeug. Ich konnte nicht glauben, dass das Piazzolla ist. Denn auch ich hatte so eine Vorstellung von Piazzolla, dass er eher feierlich und orchestral sei. Aber das klang wie elektronische Musik, sehr eindrucksvoll.“

Elf Alben hat Cachivache mittlerweile herausgebracht und auf der Seite der Womex – der Worldwide Music Expo – kann man lesen: „Cachivache genießt in der Weltmusikszene große Anerkennung“. Dennoch, das Überleben als Tangoband ist nicht einfach. Die Situation in Argentinien ist schlecht, sagen alle Bandmitglieder. Präsident Milei mache ihnen das Leben schier unmöglich, ab der Mittelschicht abwärts sei beinahe alles schwierig. Und betreffe nicht nur die Kultur, so Kontrabassist Pacha Mendes.

„Milei ist eine Katastrophe. Gesundheit und Bildung sind extrem betroffen, aber vor allem wurde auch der Lohn gekürzt. Die Kaufkraft sinkt, die Menschen haben immer weniger Geld. Wir leben in einem Land, wo die Lebensmittel für das Zehnfache verkauft werden, es sind die teuersten Lebensmittel der Welt. In der Tat bin ich überrascht, wenn ich nach Deutschland komme und in den Supermarkt gehe, dass ich hier Produkte von höherer Qualität zum halben Preis sehe als in Argentinien, wo die Löhne zehnmal niedriger sind. Und die Leute hier fragen uns, wie wir Argentinier das überleben können? Und wir haben keine Antwort darauf.“

Sie hören: „Como la gente“, „wie die Leute“, Sänger ist Super J, sein Text zu der Musik von Cachivache entstand 2020, sei aber eins zu eins auf die Aktualität übertragbar, sagt Super J:

Liedtext:
Der, der akzeptiert, bleibt
Aber es kommen so viele Proteste hinzu
Sie schreien ein System an, das nicht antwortet
Und in den Vierten schießen die Jungs jetzt schon tagsüber
Und der, der am meisten Leben auslöscht ist der Polizist
Die Arbeitslosigkeit steigt
Und wo sollen alle diese Leute schlafen?

2019 erzählten sie noch im Interview auf der Womex in Finnland, wie die Stadt Buenos Aires die Milongas – Abendveranstaltungen wo Tango gespielt und getanzt wird – gezielt kontrolliert und inspiziert hat. Viele Milongas mussten damals schließen. „Sie nehmen uns das weg, was uns glücklich macht, den Tango“, sagten sie damals. Und wie sieht Vito das heute, 2025?

„Ich bin jetzt vielleicht pessimistischer, denn ja, die Milonga macht uns glücklich, aber sie kürzen jetzt viel schlimmere Dinge. Wie ich schon sagte, Gesundheit, Bildung, Renten. Nicht einmal der Tango wird uns glücklich machen, denn wenn man in einer so benachteiligten Gesellschaft und mit so viel Schmerz lebt, ist es sehr schwierig, glücklich zu sein“.

Liedtext:
Ob Regen, Donner oder Auslandsschulden, der Schrei der Latinos
wird zu hören sein!

Autor

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ist studierte Romanistin und ausgebildete Radiojournalistin, arbeitet seit rund zwanzig Jahren für den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, vorwiegend im Kulturbereich. Von 2013 bis 2020 war sie als Dozentin der DW Akademie für Journalismus in Bolivien, Guatemala, Brasilien, Libanon und Palästina unterwegs. Aufgrund der Bankrotterklärung des Journalismus berichtet sie seit 2020 über aktuelle Politik und Wissenschaft und kommentiert den Wandel der Gesellschaft.

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