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GegenHaltung

Die fünfte Gewalt: Werbung und die Demokratie

Werbung lügt, lernte man in den 1980ern in der Schule und wusste man natürlich auch von ganz alleine. Schlanke Menschen aßen bergeweise Pralinen, Wäsche waschen und Hausputz waren ein Vergnügen, weil Meister Propper und der Weiße Riese dabei halfen und kamen die Kinder aus der Schule, wurden sie von entspannten Müttern in perfekten Eigenheimen empfangen. Die Ehemänner freuten sich, wenn sie am Abend Fertiggerichte serviert bekamen und beim Nachbarschaftsstreit schaute der Versicherungsvertreter persönlich vorbei – das alles gab es nur in der Werbung.

Eigenheime und entspannte Mütter hatte keiner von uns in der Großsiedlung Steilshoop im Norden Hamburgs, wo ich, meine Schwester und die meisten meiner Mitschüler auf-wuchsen, meine Mutter ging arbeiten, da das Gehalt meines Vaters nicht reichte, und nicht Meister Propper half ihr beim Putzen, sondern wir mussten es tun. Trotzdem schauten wir Werbung. Was wir an der Fernsehwerbung liebten, war der Unterschied zur Wirklichkeit, zumal es ein seltenes Vergnügen war, denn meine Eltern erlaubten nicht, dass der Fernseher vor Beginn einer Sendung angeschaltet wurde

Dass ich dennoch einen guten Überblick über die aktuellen Werbespots hatte, verdankte ich dem Umstand, dass meine Mutter in den Alsterdorfer Anstalten* heute Evangelische Stiftung Alsterdorf, eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, arbeitete. Manchmal holte ich sie von der Arbeit ab und während sich meine Mutter noch mit der Nachtwache besprach, setzte ich mich zu Anni, Carla und Eve, die ihr Abendbrot vor dem Fernseher essen durften, was bei uns zu Hause streng verboten war. Anni, Carla und Eve schauten auf diese heile Welt mit einer Sehnsucht und Inbrunst, die mich ansteckte. Umarmten sich Freunde in einem Werbespot, seufzten sie. Bekam in einer Parfümwerbung eine Frau von einem Verehrer einen Blumenstrauß, freuten sie sich unbändig mit ihr. Spielten Tiere mit, traten ihnen Tränen in die Augen, saß eine Familie an einem Frühstückstisch, verrieten sie mir, dass sie von einer eigenen Familie träumten, wenn sie jemals „hier herauskämen“ aus der Anstalt.

Bis heute denke ich an die Großzügigkeit dieser Frauen zurück, die jedem Menschen alles Glück der Welt gönnten, obwohl für sie selber so vieles unerreichbar war. Sie nahmen die Werbung für bare Münze, doch außerhalb der Alsterdorfer Anstalten hatte sie einen ganz anderen Stand. Lehrer und Eltern kritisierten ihre Funktion, die schlicht und einfach darin bestand, Menschen Bedürfnisse einzureden, die sie vorher nicht hatten, damit sie kauften, was sie eigentlich nicht brauchten. Doch wie dick die Macher dieser Werbekampagnen auch auftrugen, in linksliberalen Kreisen fühlte man sich vor deren Verführungskraft gefeit. Man nahm sie nicht ernst.

Werbung in den 1980ern versprach, was heute keiner mehr glaubt: Konsumieren macht glücklich!

Das hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten fundamental geändert. Werbung inszeniert inzwischen weit mehr als Produkte oder einen Lebensstil, sie ist zu einem Treiber der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über Themen und Haltungen geworden – in einem Ausmaß, das sich Werber der 1980er und 1990er nie hätten ausmalen können. Und nicht nur, weil Werbung und redaktionelle Beiträge in Zeitungen, Online-Magazinen und auf Social-Media immer mehr ineinander übergehen. (Seit 2007* wird Werbung, die als solche nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar ist, weil sie wie ein informativer Beitrag wirkt, als Content-Marketing bezeichnet).

Zahlreiche Beispiele zeugen davon, dass sich Unternehmen zu mehr berufen fühlen, als Kleidung, Getränke und Kosmetika zu bewerben und in ihren Kampagnen Normen und Werte mitverhandeln. Ob ein Getränkekonzern für mehr Offenheit bezüglich sexueller Orientierungen aufruft (Coca-Cola), eine Kosmetikmarke Frauen zu mehr Körperakzeptanz animiert (Dove), Süßwarenhersteller für Solidarität mit alten Menschen während der angeblichen Corona-Pandemie werben (Katjes); es ist offensichtlich, dass sich Unternehmen nicht mehr aus der Diskussion darüber, wie wir miteinander leben wollen, heraushalten.

Werbung Coca Cola - Katjes
Coca Cola - Love Can 1 | Katjes & Jellyhouse - Kampagne #achtetaufeinander 2

Werbung füllt ein Vakuum; private und öffentliche Strukturen schwinden, immer weniger Menschen leben in Familien, sind Mitglied in einem Verein oder arbeiten ihr Leben lang mit den gleichen Kollegen zusammen, zu denen sich ein Vertrauensverhältnis herausbilden könnte und mit denen sie besprechen könnten, was ihnen auf der Seele liegt. Und wer sucht noch Rat und Beistand bei einem Pfarrer? Und so ist für nicht wenige Menschen Werbung inzwischen die Instanz, die für sie bedeutsame Themen als erste anspricht. Depressionen, Selbstakzeptanz, Rassismus, Mobbing, Angst vor der Zukunft, Liebesleid, Kindererziehung, die persönliche Lebensgestaltung – zu allem hat die Werbung etwas zu sagen und ihre politischen und moralischen Botschaften werden gehört; teilweise sogar mehr als die der Kunst oder der Presse, denn sie sind weniger voraussetzungsreich formuliert, kommen deutlicher auf den Punkt, sind meistens auch unterhaltsamer. Dass diese neue Rolle der Werbung nicht übertrieben ist, lässt sich an vielen Marketingkonzepten ablesen, so inszenierte z.B. eine bekannte Kosmetikmarke im Jahr 2020 und 2021 das Thema „Bodyshaming“ in einer Art und Weise, die sehr deutlich macht, dass sie sich als Sprachrohr ihrer weiblichen Zielgruppe versteht und (vielleicht zu Recht) davon ausgeht, dass viele Frauen nicht einmal mit ihren Freundinnen oder dem eigenen Partner über ihre Erfahrungen und Selbstzweifel bezüglich ihres Aussehens sprechen.

Werbung Dove Bodyshaming
Dove - Kampagne Bodyshaming 3

Die Macher solcher Kampagnen glauben bestimmt sogar daran, dass sie wichtige Diskussionen anstoßen und Menschen helfen. Sie finden es gut, dass Werbung inzwischen nicht nur für Produkte oder Dienstleistungen wirbt, sondern die Lebensberatung gleich mitliefert. Bei Umfragen unter Mitarbeitern großer Firmen stellt sich immer wieder heraus, dass die „Corporate Social Responsibility“, also das freiwillige gesellschaftliche und soziale Engagement ihres Arbeitgebers, eine wichtige Rolle bei der Wahl ihrer Arbeitgeber spielt. Arbeitnehmer von heute schätzen es, wenn sich ihre Unternehmen stark machen für benachteiligte Gruppen und ihnen selbst die Möglichkeit geben, „etwas Sinnvolles zu tun“ und „die Welt ein Stückchen besser zu machen.“ Und was ist falsch daran, Gutes tun zu wollen?

Sich für die Benachteiligten dieser Gesellschaft einsetzen – wer kann etwas dagegen haben?

Wer Missstände anprangert und sich für Benachteiligte einsetzt, sieht sich als Avantgarde, als Mitglied einer Gruppe, die ihre Begrenzungen und Vorurteile überwunden hat. Leider gibt es da draußen aber immer noch Menschen, die Bodyshaming betreiben, Homosexuelle und Transpersonen ausgrenzen und finden, dass alte Menschen und Menschen mit Behinderungen weniger wert sind – so die Überzeugung der vermeintlichen Avantgardisten. Die Wirkung moralischer Kampagnen beruht darauf, dass sie die Zielgruppe auf der Seite der Opfer verortet und ihnen gleichzeitig Beistand gegen die Täter verspricht. Diese Strategie funktioniert deshalb so gut, weil sich heute so viele Menschen als Opfer sehen. Bei der Bodyshaming-Kampagne sind es sogar die eigenen Liebhaber und Partner, die zu potentiellen Tätern gemacht werden, bei der Katjes-Werbung aus dem Jahr 2020 waren es die Kritiker der Corona-Maßnahmen, denen kurzerhand unterstellt wurde, dass es ihnen gleichgültig wäre, wenn Omas und Opas sterben.

Weil moralische Kampagnen die Menschen in Opfer und Täter einteilen, spalten sie; sie treiben Keile zwischen Kollegen, Freunde und Liebende. Die Unternehmen aber treten auf als Retter in der Not, inszenieren sich als bessere Freunde und Gefährten. Mit anderen Worten: Diese Kampagnen verbreiten Hass und Hetze, auch, wenn alle, die daran mitarbeiten, davon überzeugt davon sind, das Gegenteil zu tun.

Was ist eigentlich Hass?

Die Psychoanalytikerin Jeanette Fischer erklärt den Unterschied zwischen Wut und Hass so:

Wut ist eine unmittelbare Reaktion auf eine Grenzverletzung, Wut stellt uns Energie zur Verfügung, uns zu verteidigen.

Hass ist dagegen eine Art Ideologie. Hass entsteht, wenn ich mich zum Opfer erkläre und andere zum Täter. Die Täter werden zu Schuldigen gemacht; sie sind nun z.B. schuld daran, dass ich nicht glücklich bin. Und weil die Täter meinem Glück im Wege stehen, habe ich das Recht, sie mit allen Mitteln zu bekämpfen.

Das Problem bei dieser Art von Werbung sind nicht die Inhalte, es ist die Instanz. Die Werbung von früher inszenierte eine Traumwelt, es war leicht, sie von der eigenen Sphäre zu trennen. Jetzt, wo Marketing den Kulturkampf gekapert hat, um Aufmerksamkeit für Produkte und Dienstleistungen zu generieren, werden die Grenzen verwischt. Werbe-treibende mischen sich ein, sprechen davon, was uns wirklich betrifft, aber nicht als gleichrangige Akteure, mit denen sich diskutieren ließe, sondern sie liefern gleich das ganze fertige Paket: Also das Problem, die Werturteile, die Schuldigen und die Lösung. Die simulierte gesellschaftliche Diskussion ermöglicht dem Einzelnen keine Erkenntnisse, im Gegenteil, die omnipräsenten Botschaften erschweren den Zugang dazu, wie man selbst eigentlich zu den Dingen steht. Auch interaktive Maßnahmen, wie Umfragen oder PR-Aktionen sind in Wirklichkeit nur kommunikative Einbahnstraßen – und das Ergebnis steht immer schon fest.

Werbung bereichert nicht die gesellschaftliche Diskussion, sie verstopft sie.

In den 1980er Jahren griff Werbung die Sehnsucht nach Glück und einem besseren Leben auf. In den 1990ern kam die Selbstverwirklichung dazu, die in der typischen Werbever-drehung so klingt: Nur, wenn ich so bin, wie andere es von mir erwarten, kann ich ganz ich selbst sein. Diese nicht erfüllbare, weil paradoxe Forderung hat viele Menschen unglücklich gemacht, nicht Wenige sind bis heute überzeugt, dass sie erst richtig anfangen können zu leben, wenn sie so schlank, so frei, wild, abenteuerlustig, mutig und unkonventionell sind, wie es ihnen überall in der Werbung vorgeführt wurde. Nun wollen ausgerechnet die Unternehmen und Konzerne, die diese erdrückenden Normen gesetzt haben, uns angeblich im Kampf um die eigene Würde zur Seite springen? Wer’s glaubt, wird selig.

Marken wie Dove tragen dazu bei, wie unsere Gesellschaft mit Schönheitsidealen umgeht.

Deshalb wollen wir mit positivem Beispiel vorangehen – und gehen noch einen Schritt weiter.

Wir sprechen ganz konkret den toxischen Umgang mit Schönheitsidealen an und zeigen, was wir alle dagegen tun können.

Natalie Dargus,
Business Lead Skin Care DACH bei Unilever

Werbung macht das kapitalistische Prinzip sichtbar, welches darin besteht, jedes menschliche Bedürfnis einer Verwertung zuzuführen. Diese Verwertung ergreift inzwischen unser ganzes Sein. So zeigt die Soziologin Eva Illouz in ihren Werken („Konsum der Romantik“, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ u.a.) wie Massenmedien und die Werbung, die Art wie wir fühlen und lieben, verändert haben. Unsere Emotionen wurden und werden benutzt, um uns zu verführen, aber unser Wunsch nach Nähe, Sexualität und Liebe scheint inzwischen ausgelutscht und zieht nicht mehr so gut. Daher bedient sich die Werbung nun eben an unseren Schmerzen, Zweifeln und Konflikten.

Werbung Che Guevara
Aus der Rebellion gegen das System wird ein Geschäft: Mit dem auf T-Shirts gedruckten Konterfei eines der bekanntesten Kapitalismuskritikers, Che Guevara, lässt sich auch Geld verdienen. 4

Das Glücksversprechen der Konsumgesellschaft bröckelt, Depression macht sich breit, die einen haben genug von allem, die anderen können sich kaum mehr das Nötige leisten. Nun bietet uns die Werbung das Recht an, uns zu empören, Empörung ist schließlich auch ein starkes Gefühl. Es geht also nicht mehr darum, sich durch den Kauf von bestimmten Pro-dukten glücklicher zu fühlen, sondern mit diesen Produkten eine moralische Deutungsmacht zu erwerben. Was sonst haben Themen wie die sexuelle Orientierung auf Nudelpackungen und Getränkedosen zu suchen?

Werbung Barilla
Die 2017 von der Künstlerin Olimpia Zagnoli entworfene LGBTQ-Verpackung des Nudelhersteller Barilla stieß auf ein gemischtes Echo 5

Den Kampf um seine Rechte sollte man nicht anderen überlassen!

Der Kampf um unsere gesellschaftliche Stellung wird härter, auf allen Ebenen, längst reicht es nicht, die beste Version unserer Selbst zu sein, die Konkurrenz ist einfach zu groß. Nun wird uns durch die Massenmedien und der Werbung erlaubt, uns benachteiligt zu fühlen. Die allgegenwärtige Unmutspropaganda heizt den Kampf der Identitäten an, lenkt unsere Verzweiflung, Enttäuschung und Aggressionen auf eine Gruppe, die niemand so recht verteidigen mag: Auf die Ewiggestrigen, Ignoranten und weltanschaulichen Analphabeten. Da diese sich nicht wehren können, weil sie nicht in den Fernsehredaktionen und Marketingabteilungen sitzen, geben sie perfekte Feindbilder ab, denen man nicht zuhören muss und denen man alles unterstellen kann.

Diese Dauererregung bleibt nicht ohne Folgen, sie verhindert die Erkenntnis, dass der Kapitalismus uns niemals Gerechtigkeit, Würde und Emanzipation zurückbringt, wie auch Catherine Liu, Professorin für Film- und Medienwissenschaftlerin in Kalifornien, in ihrer Streitschrift „Virtue Hoarders: The Case Against the Professional Managerial Class“ mahnt. Sie appelliert daher an die Linke, sich wieder mit der ökonomisch-sozialen Frage zu beschäftigen und sich nicht – unter dem Deckmantel eines Tugendwächters – am Klassenkampf gegen die Arbeiter und die Unterschicht zu beteiligen.

Würde und Gerechtigkeit müssen wir uns schon selbst erkämpfen, aber wie, wenn jede Diskussion bereits gekapert und verdreht wurde und einfach überall gewarnt, gemahnt und an uns appelliert wird. Es ist zermürbend, wenn nahezu jede Eiscreme-Marke, jedes Musikfestival, jedes Museum und inzwischen schon der öffentliche Nahverkehr uns unsere Solidarität mit wem auch immer abringen will. Und damit natürlich das Gegenteil erreicht.

Wir brauchen Räume, wo wir wieder frei sind. Frei, uns mit den Themen zu beschäftigen, mit denen wir uns beschäftigen wollen. Wo wir Gedanken entwickeln können, ohne vorher zu wissen, wo sie uns hinführen müssen. Und in denen wir erkennen können, wer hier eigentlich wirklich unsere Freunde sind und wer es auf keinen Fall ist. Eines ist klar, im öffentlichen Raum und in Social-Media geht es nicht mehr, wir müssen wieder ganz von vorne anfangen. Und wenn es erst einmal zu zweit ist.

Bildnachweise

Autor

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stammt aus einer deutsch-israelisch-iranischen Familie. Die Autorin lebt in Berlin und arbeitet unter anderem als PR- und Werbetexterin. Ihre Bestseller „Ich bleib so Scheiße wie ich bin“ und „Nett ist die kleine Schwester von Scheiße“ standen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Mit ihren scharfen Beobachtungen, ihrer Affinität zur Literatur, trifft sie ins Mark.

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