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GegenHaltung

Haltung und Flirten

Die richtige Haltung zu haben, ist wichtig für die eigene Identität. Die Welt ein Stückchen besser zu machen, verleiht Lebenssinn. Ein Mensch mit Haltung findet also, dass die Welt und alle Menschen darin dringend der Verbesserung bedürfen. Man nennt es auch Normierung. Zeit, dagegenzuhalten.

Gute können nicht flirten.

Ein Freund arbeitet von Zeit zu Zeit an einem Computerplatz in einer Stadtbücherei, neulich lächelte er einer Frau zu, die ihm gefiel, sie zeigte ihm einen Fuckfinger. Ihr gutes Recht, denn ob sie sich gestört fühlt, entscheidet sie schließlich immer noch selbst, finden Frauen wie Ursula auf der Heide (frühere Fraktionsvize der Grünen) oder Anja Junck von der Flugbegleitergewerkschaft UFO, die von sich behaupten, dass sie „gutes“ Flirten durchaus schätzen, nur misslungenes und sexistisches eben nicht. Gegen schlechtes Flirten sollten sich Frauen daher wehren.

Was ist eigentlich ein Flirt?

Irgendwie weiß das jeder, aber wenn es soweit ist, fällt einem nichts mehr ein, flirten ist umso schwerer, je besser einem jemand gefällt. Flirtartist aus aller Welt haben das absolute Erfolgsrezept für den erfolgreichen Flirt herausgefunden, so raten die Profis beispielsweise, statt eine Frau in der Disko zum üblichen Drink einzuladen und sie solche langweiligen Dinge zu fragen, wie ‚ob sie öfter herkomme‘, zu sagen: „Tanzt du, oder musst du auf Toilette, das sieht so komisch aus.“

Wer Ablehnung
um jeden Preis vermeiden will,
hat im entscheidenden Moment
nichts zu verschenken.

Das ist der Unterpfand eines jeden Flirts – die riskierte Ablehnung des anderen. Ein Flirt ist also ein Wagnis, weil er an der Grenze des Schicklichen operiert, ja operieren muss, Flirtartist lieben diese Gratwanderung zwischen Liebenswürdigkeit und Unausstehlichkeit, für Menschen, die alles richtig machen, nie auffallen oder anstößig sein wollen, unvorstellbar. Ohne dieses kleine Geschenk der Auslieferung an den anderen geht das Flirten aber nicht, die Anweisung „richtig“ zu flirten, ist daher ganz und gar absurd: Der Flirtende erhält das Lächeln, weil er oder sie etwas tut, wofür er oder sie eigentlich eine Ohrfeige verdient hat, so funktioniert dieses Spiel.

Nur das Unerwartete
schafft einen besonderen Kontakt,
wenn auch nicht immer
einen angenehmen.

Flirten ist die Absage an korrektes Benehmen, an die richtige Haltung. Wer seine richtige Haltung nicht aufgeben kann, kann nicht flirten oder charmant sein. Es fängt mit dem Augenkontakt an, erst wenn man jemandem länger in die Augen schaut, als normalerweise üblich, kann das Gegenüber überhaupt bemerken, dass es angeflirtet wird. Flirten ist die Kontaktaufnahme mit einer bestimmten, meist fremden Person und hat deswegen schon aus Prinzip mit Höflichkeit wenig zu tun. Höfliches Benehmen ist dazu da, den Kontakt mit Fremden möglichst unkompliziert und reibungslos zu gestalten, also so wenig Kontakt wie möglich entstehen zu lassen. Höflich ist man, indem man genau das tut, was Unbekannte oder Kollegen und Bekannte von einem erwarten. Man grüßt im Treppenhaus und wird zurückgegrüßt, man bekommt an Ein- und Ausgängen die Tür aufgehalten und bedankt sich dafür. Grüßt der flüchtig bekannte Nachbar aber nicht, muss man sich wider Willen mit ihm beschäftigen: Kostbare Minuten wird man sich fragen, ob das Verhalten des Nachbarn mit einem selbst zu tun hat, bis man wieder zu erhabeneren Gedanken zurückkehren kann.

Genau auf diese Doppelgesichtigkeit des Flirts hatte Catherine Deneuve im Rahmen der metoo-Debatte hinweisen wollen, als sie 2018 in einem offenen Brief mit 99 anderen französischen Frauen die „Freiheit zu belästigen“ forderte und mahnte, dass es Männern erlaubt sein müsse, auch ungeschickt zu flirten. Einer Person, der man zeigen möchte, dass man sie unter den vielen Menschen, die einem begegnen für eine Ausnahme hält, muss man „behelligen“ und sei es nur für einen Augenblick.

Natürlich geht das auch schief, die Wahrscheinlichkeit, dass ich beim Flirten nicht den Geschmack des anderen, mir noch unbekannten Menschen treffe, ist nicht gering. Aber wo bleibt die Großzügigkeit der Frauen? Kann sich eine Frau nicht einmal heimlich daran freuen, wenn ihr ein Mann zum Beispiel sagt, dass sie ihn „hormonell außer Gefecht setze“. Muss sie einen Mann mit Rachsucht verfolgen, weil er eine Formulierung benutzt, die ihr nicht gefällt. Eine patzige Antwort sollte in den meisten Situationen genügen.

Der Preis für das Lächeln eines anderen
ist die Selbstachtung.

Sich am Leben und an sich selbst zu freuen, ist das, was uns der Flirt verspricht. Flirten kann theoretisch jeder und fast immer, ganz gleich, ob er oder sie erfolgreich ist oder ein Versager, ob dumm oder schlau, sogar Schönheit braucht es dazu nicht. Menschen, die großen Wert darauf legen, stets sie selber zu sein mit allem Drum und Dran und korrekte Haltung inklusive, lehnen diesen „Urlaub von sich selbst“ natürlich ab. Sie setzen lieber auf die Triumphe, die aus ihrem „Über-ICH“ kommen.

In seinem Modell der Persönlichkeitsstruktur hat Sigmund Freud mit dem Über-ICH die moralische Instanz unserer Persönlichkeit bezeichnet, während das ES die elementaren Bedürfnisse und Affekte umfasst. Als souveräne Persönlichkeit (das ICH) führt man beide Anteile zusammen, also sowohl die moralischen Forderungen als auch die eigenen Gelüste. Dadurch ergeben sich zwei Freuden des ICHs, nämlich die, seinen moralischen Werten zu folgen, auch Stolz genannt: Man ist stolz, wenn man früh aufsteht, joggt, kalt duscht und ein gesundes Frühstück zu sich nimmt und sich fleißig seinen Aufgaben widmet. Dann aber kommt der Moment, in dem man auf das alles pfeift und die Nächte durchmacht. Das heißt Lebensfreude. Beides gleichzeitig geht nicht, auch wenn das Menschen mit Haltung immer noch glauben.

Menschen, die auf ihre Selbstachtung setzen,
sind nicht zu beneiden.

Das Gefühl der moralischen Überlegenheit über Sexisten und Rassisten hat seinen Preis. Die Guten zahlen mit ihrer Lebensfreude. Ständig sehen sie, was sie nicht haben können. Die anderen halten sich nämlich nicht zurück, sind schamlos, sagen, was sie denken, essen Zucker und Salz, trinken Alkohol, küssen und flirten. Moralisten sind zutiefst überzeugt, dass jeder, der sich freut, sich nur freuen kann, weil er keine Werte mehr hat. Sie kommen nicht auf die Idee, dass auch die anderen Menschen Werte haben und nur um der Freude, der Galanterie und der Überraschung Willen eine Ausnahme machen. Kurz: Ihre Selbstachtung für kurze, schöne Momente einmal beiseitelassen.

Haltungsaktivisten geben immerzu ihr „Bestes“, sind bewusst, sind höflich, gehen jeden Freitag für das Klima auf die Straße, besuchen antikolonialistische Stadtführungen und schämen sich an Statt derer, die sich eigentlich schämen sollten – und sind doch nicht glücklich. Wegen dieser angeblichen Ungerechtigkeit muss ein Ausgleich her, wenn der Moralist oder die Moralistin sich nicht freuen kann, dürfen andere auch nicht. Weil sie nicht flirten, soll keiner. Noch im harmlosesten Genuss der anderen finden sie etwas, was ihrer Meinung nach anstößig oder herabsetzend ist. Und erfinden immer neue, todlangweilige Hashtags. Aber irgendwann wird auch das vorbei sein und dann wird die Frau in der Stadtbücherei vielleicht wieder zurücklächeln.

Autor

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stammt aus einer deutsch-israelisch-iranischen Familie. Die Autorin lebt in Berlin und arbeitet unter anderem als PR- und Werbetexterin. Ihre Bestseller „Ich bleib so Scheiße wie ich bin“ und „Nett ist die kleine Schwester von Scheiße“ standen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Mit ihren scharfen Beobachtungen, ihrer Affinität zur Literatur, trifft sie ins Mark.

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