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GegenHaltung

Solidarisch gegen die anderen?

Von einer Solidarität, die keine war und von Spaltung, die als Zusammenhalt verkauft wurde.

(Bildmotiv:  @Adobe Stock/+27.000 BOU)

„Das Ziel im Leben ist nicht, aufseiten der Mehrheit zu stehen,
sondern aus den Reihen der Wahnsinnigen auszubrechen.“

Marc Aurel

Solidarisch
Berlin-Kreuzberg 2020 | @ Oliver Sperl

Dinge, für die ich werben muss, sind nicht da

Vor Jahren kam ich in die Wohnung der Schwester meines damaligen Freundes. Sie war mit einem Franzosen verheiratet, wir sollten auf die Kinder aufpassen, damit er zum Sport und sie zum Friseur gehen konnte. Im Flur hingen gerahmte Fotos vom letzten Urlaub ohne Kinder, die Schwester mit ihrem Mann, Arm in Arm am Strand. Vor ihnen war mit einem Stock der Satz in den Sand gemalt „je t‘aime.“ Mit einer Mischung aus Abwehr und Neid betrachtete ich damals die Fotos. Neid, weil noch nie jemand in die Gegend gekritzelt hatte, wie sehr er mich liebt. Aber da war noch etwas Anderes. „Wenn man es schon hinschreiben muss“, sagte meine Mutter, als wir in den frühen 1980ern in der DDR waren, wo in jedem Dorf an einem Haus stand, dass die DDR ein Staat des Friedens sei. „Gruselig“, fand eine Freundin, als wir in einer Wohngemeinschaftsküche den mitgebrachten Wein auspackten, in der die Bewohner den Spruch „Jeder Tag, an dem du nicht lächelst, ist ein verlorener Tag.“ an die Wand gepinselt hatten. „Schnell weg“, dachte ich, als ich mich in einer PR-Agentur bewerben wollte und dort bereits am Eingang angeschlagen war, dass hier absoluter Teamgeist herrsche.

Jede öffentliche Darstellung ist die Darstellung von etwas, was nicht mehr ist, dessen Fehlen aber noch schmerzlich bemerkt wird. Das ist der Moment, wo Menschen zum Stock oder Pinsel greifen, Behörden zum Plakat, Politiker zur Grundsatzrede, Paare zum Heiratsantrag – um das, was entschwunden ist, wieder herbeizuzwingen. Die Faustregel lautet: Für das, was da ist, muss ich nicht werben, und Dinge, für die ich werben muss, sind nicht da.

Serie GegenHaltung

Die richtige Haltung zu haben, ist wichtig für die eigene Identität. Die Welt ein Stückchen besser zu machen, verleiht Lebenssinn. Ein Mensch mit Haltung findet also, dass die Welt und alle Menschen darin dringend der Verbesserung bedürfen. Man nennt es auch Normierung. Zeit, dagegenzuhalten.

Weitere GegenHaltungs-Artikel von Rebecca Niazi-Shahabi:

Reden über das, was in der Gesellschaft verloren ist

2020 hatte die Solidarität ihren großen Auftritt. In Social-Media-Spots und auf Plakaten wurde betont, dass Solidarität jetzt wichtiger sei als Meinungs- und Bewegungsfreiheit, um die Krise zu überstehen und Menschenleben zu retten. Um als solidarisch zu gelten, stellten nicht Wenige sogar ihre körperliche Unversehrtheit hintan und ließen an sich eine neuartige und nicht hinreichend geprüfte Gen-Manipulation ausprobieren. Unter ihnen auch Menschen, die normalerweise nicht einmal genmanipuliertes Gemüse essen.

Wir wurden von Behörden und Konzernen aufgefordert, solidarisch zu sein und schließlich sogar von der Antifa.

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links: Konzerne entdeckten plötzlich die Solidarität (@ Kampagne #ZusammenGegenCorona) | rechts: Und auch die Antifa lieferte 2021 eine ganz neue Deutung von Solidarität mit ihrer Impfkampagne „Wir impfen euch ALLE“. Berlin Kreuzberg

Viele Artikel wurden über die Solidarität geschrieben, viele Interviews geführt über das Zusammenstehen in harten Zeiten. Über die Schwächeren in der Gesellschaft, die zu schützen doch in unserem ureigenen Interesse stünde. Doch leider kann man Solidarität – genauso wie Liebe und Höflichkeit – nicht anordnen. Sie muss von alleine entstehen. Entsteht sie nicht, gibt es keine Instanz, die sagen kann, dass sie entstehen sollte. Aber genau das wurde versucht, mal mild und mit Verständnis, mal rau und unverschämt.

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U.a. die Berliner Verkehrsbetriebe fühlten sich dazu berufen, die angeblich Nicht-Solidarischen herabzuwürdigen. Berlin 2021

Wer nicht mitmacht, ist raus?

Solidarität setzt voraus, dass man das Allgemeine in sich erkennt und deswegen in bestimmten Situationen von sich absehen kann. Das Bedürfnis, solidarisch zu sein, entsteht, wenn man plötzlich spürt: Wenn ich jetzt auf meinem persönlichen Interesse bestehe, wird mein Leben unerträglich klein. Dies ist der Moment, in dem aus Konkurrenten Mitstreiter werden und jeder Einzelne bereit ist, handfeste Nachteile in Kauf zu nehmen oder sogar sein Leben zu riskieren. Weil er oder sie fühlt, es gibt Schlimmeres als den Tod, nämlich ein schäbiger Mensch zu sein. Deswegen streiken Arbeiter mit Kolleginnen und -kollegen, auch wenn es ihren Job kosten kann, opfern Menschen ihre Zeit, um den Nachbarn in ihrem Viertel gegen die Zwangsräumung beizustehen. Iranische Männer solidarisieren sich mit Frauen, die gegen Kopftuchzwang protestieren, obwohl sie wissen, dass auf diesen Demonstrationen geschossen wird. Der solidarische Mensch ist furchtlos, trotz der Bedrohung. Gemeinsam mit anderen schafft er, was er niemals allein schaffen könnte: Nämlich ein größerer, edlerer Mensch zu sein.

Die freiwillige Entscheidung zur Solidarität macht das Individuum also souverän. Der Solidarische erkennt, dass es einfacher war, als gedacht, seine Angst und seinen Neid zu überwinden, um Schwächere gegen Autoritäten zu verteidigen.

Doch werden wir dagegen aufgerufen, gedrängt oder gar gezwungen, solidarisch zu sein, ist es plötzlich ganz anders. Dann wird Solidarität zum Angriff auf unsere Person. Unsere Bedürfnisse werden negiert, einem höheren Ziel untergeordnet, das wir nicht selbst gewählt haben. Die angeordnete Solidarität raubt den Menschen ihr Sein.

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2020 ahnte jeder, dass er raus ist aus der Gesellschaft, wenn er nicht mitmacht. Hier Sendungsankündigung Bayrischer Rundfunk

Souverän ist, wer über seine Verletzlichkeit triumphiert

Das Erstaunliche zu Zeiten der Corona-Pandemie war, dass der allgegenwärtige Aufruf zur Solidarität auf ein großes Bedürfnis stieß. Viele Menschen wollten Opfer bringen für die, die sonst nicht im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen wie Ältere und Vorerkrankte. Die Opfer und das Ziel – die Überwindung der größten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg laut der damaligen Kanzlerin Angela Merkel – verschafften ihnen ein lange verloren geglaubtes Gemeinschaftsgefühl und die Überzeugung, an einer großen Sache teilzuhaben.

Was ist das Problem, könnte man also fragen. Ob nun angeordnet oder nicht, das Ergebnis ist das Gleiche, oder nicht? Aber leider wurde in den Jahren 2020-2024 auf den vielen Werbeplakaten nicht erwähnt, dass Solidarität eigentlich dazu dient, die eigene Verletzlichkeit zu überwinden und sich im Kampf gegen seine Ängste den Mitmenschen zum Komplizen zu machen. Vielmehr wurden Verletzlichkeit und Todesangst dazu genutzt, um die Bürger unter Druck zu setzten und gegeneinander auszuspielen. Die gefährdeten Großeltern wurden zum Propaganda-Material (dabei gab es in dieser Zeit durchaus Großeltern, die nicht zwangsgeschützt werden wollten). Der Mitmensch wurde zum Feind (er könnte ja das Virus in sich tragen und symptomlos erkrankt sein). Familien und Freundeskreise rückten nicht etwa zusammen, sondern wurden gespalten. Und auch der Neid wurde in dieser Zeit nicht mit Hilfe der Solidarität in etwas Höheres verwandelt. Den Ängstlichen und Neidischen wurde vielmehr die Möglichkeit geboten, ihre kleinlichen Gefühle am Nachbarn auszulassen, das heißt, die Polizei zu rufen, wenn sie vermuteten, dass in der Wohnung nebenan mehr als die eine erlaubte Kontaktperson zu Besuch war und sich dort, trotz Pandemie, des Lebens gefreut wurde. Solidarität sieht anders aus.

Die verdammte Sehnsucht nach Gemeinschaft

In einer Abstiegsgesellschaft (ein Begriff des Soziologen Oliver Nachtwey), in der immer mehr Menschen Angst haben durch das Raster zu fallen, wird Solidarität zum raren Gut. Auch Hoffnung und Zuversicht schwinden, wenn man keine lohnenswerten Zukunftsperspektiven mehr entwerfen kann. Die frei flotierende Angst in einer Gesellschaft bei gleichzeitiger Vereinzelung sei die Vorbedingung für die Entstehung eines Massenwahns, so die These des belgischen Psychologen Mattias Desmet, der im Corona-Geschehen einen solchen Wahn erkannte. Der Wahn wird zum Halt, die Angst bekommt eine Gestalt und endlich tun sich wieder alle zusammen, um das angebliche Problem zu lösen. Doch jeder, der jetzt an diesem Wahngebäude rüttelt, rüttelt an dem Halt, den sich die Menschen gebaut haben. Das führt dazu, dass sogar beruhigende Fakten und Zahlen, wie viele Ärzte und Wissenschaftler sie in dieser Zeit bezüglich Sterblichkeitsrate des Virus, Belegungszahlen der Intensivstationen u.v.m. zusammengetragen und publiziert haben, mit aller Kraft abgewehrt wurden – sehr zum Erstaunen derer, die glaubten, der Spuk würde aufhören, wenn die Menschen begreifen würden, dass sie keine Angst mehr haben müssten.

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Dass Angst zum Halt werden kann, ist schwer zu verstehen, von denen, die nicht vom Massenwahn erfasst sind.

Weil der Wahn vielen Menschen das lang ersehnte Gemeinschaftsgefühl wiederbringt, müssen die, die den Wahn auflösen wollen, ausgeschlossen werden. Das kann so weit gehen, dass, wie im Iran kurz nach der islamischen Revolution, sogar Mütter ihre eigenen Söhne an das neue Mullah-Regime verrieten und ihnen, nachdem das Todesurteil über sie gefällt war, eigenhändig den Henkerstrick um den Hals legten. Natürlich hat ihnen dieses „Opfer“ das Herz gebrochen, doch der Schmerz bestätigte, wie viel sie für die (neue) Gemeinschaft zu geben bereit waren.

Der Neid macht uns zu Feinden

Die Pseudogemeinschaft der Rechtschaffenen stabilisiert sich durch den drohenden Ausschluss; es ist also die Angst, wieder alleine dazustehen, die hinter der vorgeschobenen Angst steckt. Wer bereits aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist (aus welchen Gründen auch immer), ist meistens immun gegen den Massenwahn. Wer weiß, dass Beziehungen das Wirksamste sind, was gegen existentielle Ängste hilft, ist ebenfalls nicht so einfach zu täuschen und kommt eher nicht auf die Idee, Angehörige alleine sterben zu lassen, um sie vor einem Virus zu schützen. (Was auch dann absurd gewesen wäre, wenn es sich bei Corona um das Killervirus gehandelt hätte, als das es dargestellt wurde.) Doch es muss noch etwas Anderes hinzukommen, damit Menschen ihre Mitmenschen nicht mehr als den besseren Halt in schwierigen Zeiten erkennen und sich lieber an die Verlautbarungen einer anonymen Gruppe klammern: Der Neid, beziehungsweise der daraus resultierende Groll gegen den anderen verhindert, im entscheidenden Moment zu erkennen, wer Freund und wer Feind ist.

Sein statt haben? Lieber nicht

Der Neid in der Postmoderne richtet sich schon lange nicht mehr auf den Besitz des anderen, (Besitzneid ist in den westlichen Gesellschaften ein Zeichen von Unreife und Unbildung geworden, den sich nur noch Wenige erlauben), sondern auf sein Sein.

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Teure Autos, Rolex und eine Villa mit Swimmingpool? Ein postmoderner Mensch hat andere Träume

Das postmoderne Projekt lautet, ganz authentisch, das heißt ganz ich selbst zu sein. Und so richtet sich logischerweise der Neid nicht mehr gegen die, die mehr haben, sondern gegen die, von denen man vermutet, sie seien bei sich angekommen.

Wie zermürbend diese Suche nach sich Selbst ist, hat Alain Ehrenberg bereits 2004 in seinem Klassiker „Das erschöpfte Selbst“ beschrieben. Er stellt fest, dass diese Suche keinen Inhalt und kein Ziel kennt; sie ist eine Fata Morgana und so kommt es, dass der Postmoderne irgendwann überzeugt ist, er sei der Einzige, der sein Glück noch nicht gefunden habe. Während alle anderen sich so zeigen, wie sie wirklich sind, macht er gute Miene zum bösen Spiel, während er heimlich an sich zweifelt und leidet. Er ahnt nicht, dass er wiederum von allen anderen beneidet wird, die fest davon überzeugt sind, er sei genau so, wie er sich gibt. Als man andere noch um seinen Besitz beneidete, fühlte man sich arm, doch die Neidischen von heute fühlen sich leer.

Ohne Freude keine Solidarität

Der Neid auf das Sein entfremdet die Menschen also stärker voneinander als der Neid auf Besitz. Dazu wird jeder, der glaubt, er müsse ganz mit sich übereinstimmen, unglücklich. Denn wenn ich nicht Fünfe gerade sein lassen kann, kann ich kaum in den Urlaub fliegen, Fleisch essen, Alkohol trinken, Auto fahren und untreu sein. Kein Wunder, dass die, die sich noch amüsieren, verdächtigt werden, schlechte Menschen zu sein, denen alles egal ist. Denn die, die das Projekt der völligen Übereinstimmung verfolgen, kommen nicht auf die Idee, dass denen, die sich noch amüsieren, die zwiespältige Natur fast aller Vergnügungen bewusst ist. Sie tun es trotzdem.

Für das Glück entscheidet man sich nicht, weil,
sondern obwohl es nicht zu einem passt.“

Rebecca Niazi-Shahabi

In einer Welt, in der jeder Mensch dazu aufgerufen wird, das Einzigartige in sich zu entdecken und zu verteidigen, also anders als die anderen zu sein, ist es schwierig, zu sehen, was einen mit anderen verbindet. Deswegen erkennt man im Mitmenschen keinen Mitstreiter mehr – weder für Spaß, noch für Solidarität. Der andere ist nicht mehr der Quell dessen, was das Leben lebenswert macht, sondern einer, der auf meine Kosten sein schönes Leben lebt. Und mit so einem soll ich solidarisch sein?

Wer mit wem und gegen was?

Als man Menschen noch um ihren Besitz beneidete, war leichter zu erkennen, mit wem man im gleichen Boot saß und gegen wen man sich zu wehren hatte. Als Besitz-Neider wäre man misstrauischer, wenn Superreiche einen überreden wollen, aus „Solidarität“, die eigene Arbeitskraft zu ruinieren – und damit das Einzige, was man als Besitzloser auf dem Markt gegen Geld eintauschen kann. Man würde sich auch nicht wundern, wenn man ausgerechnet von jenen fallengelassen wird, die am Experiment mit den angeblichen Impfstoffen verdient haben. Man müsste auch nicht jeden als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, der darauf hinweist, dass es Eliten auf dieser Erde gibt, denen der Durchschnittsbürger herzlich gleichgültig ist. Nicht nur in Indien, wo die Arzneimittelindustrie ganze Regionen ins Unglück stürzt, sondern auch hier, in Europa.

Schon lange fordern Altlinke, das Projekt der Identitätspolitik, also der Selbstfindung, fallen zu lassen und sich wieder der großen Frage der Besitzverteilung auf dieser Welt zu widmen. Solange aber noch viele glauben, dass ihr Mitmensch ihr Feind ist, haben die Reichsten dieser Erde nichts zu fürchten. Ihre größte Angst ist, dass sich Menschen – freiwillig – zusammentun, denn gegen die Kraft der Solidarität kämen sie auch mit ihrem Geld nicht an.

Autor

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stammt aus einer deutsch-israelisch-iranischen Familie. Die Autorin lebt in Berlin und arbeitet unter anderem als PR- und Werbetexterin. Ihre Bestseller „Ich bleib so Scheiße wie ich bin“ und „Nett ist die kleine Schwester von Scheiße“ standen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Mit ihren scharfen Beobachtungen, ihrer Affinität zur Literatur, trifft sie ins Mark.

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